Da die amerikanischen Panzertruppen der 1. und 3. US-Armee am 9. April 1945 auch von Norden, also aus Richtung Siemerode, Göttingen, Desingerode nach Heiligenstadt vorrückten, erreichten sie am nördlichen Stadtrand die Stadt über die Verbindungsstraße, heute L1005. Heiligenstadt, Lazarettstadt, war längst im Ausnahmezustand, denn zwischen 3000 und 4000 verwundete deutsche Soldaten waren in der Stadt untergebracht. Das erste Haus, dass die Amerikaner von Norden kommend einnahmen beziehungsweise besetzten, war das Haus meines Großvaters, Franz Josef Rhode (1898-1979), kriegsblinder Invalide aus dem Ersten Weltkrieg (1914-1918). Mit seiner Familie (5 Kinder) und verschiedenen Mietern oder teilweise zugewiesenen Familien in dem Haus. Es war ein dreigeschossiges, großes Mehrfamilienhaus (Baujahr 1906), das mein Großvater 1928 (Umzug aus Reinholterode, der Rhode-Mühle) für ca. 12.000 Reichsmark erworben (Rentenkapitalisierung, etwa 140 RM Rente, bis 1944 endlich abgezahlt) und teilweise notwendiger Weise auch vermietet hatte - mit einem großen, teilweise ausgebauten Dachboden und einem Erker-Zimmer-Fenster, welches einen Blick über die ganze Stadt ermöglichte Richtung Süden, Westen, Osten.
Auch hier saß die siebenköpfige Familie an diesem bedrückenden Tag im Keller in einem kleinen, mit einem zweiten Ausgang versehenen Not-Schutzkeller, in dem wohl ein Sofa vorhanden war, auf dem mein blinder Großvater saß;
Zu erwähnen ist noch eine sehr brenzlige und lebensgefährliche Situationen: Wehrmachtssoldaten hatten das Haus als Deckung und vielleicht auch Angriffspunkt gegen die von Norden anrückenden Amerikaner erkannt oder es war befohlen. Sie waren mit Maschinenpistolen und auch sogenannten Panzerfäusten bewaffnet. Mein Großvater Franz Josef Rhode, kriegsblinder, doppelt invalidisierter (seit 1917) Teilnehmer des Ersten Weltkrieges (1914-1918), redete eindringlich auf sie ein, das Objekt zu verlassen mit Blick auf die vielen nicht geschützten Personen und Kinder im Hause.
Daraufhin zogen die Soldaten ab und warfen Teile ihre Munition und Bewaffnung in den Wassergraben nördlich des Hauses…
Nachdem dann am frühen Nachmittag des 9. April gegen 15.00 Uhr ein Panzerspähwagen der Amerikaner in die Auffahrt des Grundstücks, die über einen damals noch offenen Wassergraben führte, gefahren war und diese dabei teilweise zerstört hatte, wurde das Haus besetzt; ein amerikanischer Soldat mit Maschinenpistole saß ab dem Zeitpunkt Wache im Dachgeschoss im Fenster mit Blick zur Stadt Richtung Süden, Westen, Osten. Man muss hier bedenken, dass der Krieg zwar in Heiligenstadt zu Ende war, insgesamt in Deutschland jedoch noch nicht. Die Alliierten näherten sich der Reichshauptstadt Berlin - es kam noch zu schwersten Kämpfen, wobei viele sinnlose Opfer noch zu beklagen waren, bis am 8. Mai 1945 die endgültige Kapitulation erfolgte.
Die Elektroleitungen am Haus wurden heruntergerissen und eine eigene Energieversorgung, Notstromversorgung der Amerikaner angeschlossen.
Alle Bewohner, auch mein kriegsblinder Großvater, mussten das Haus unverzüglich verlassen - das Haus wurde requiriert. In aller Eile wurde mein Großvater auf einen Handwagen gesetzt und noch schnell ein paar Matratzen hinzugefügt und so zu Verwandten in die Stadt in der Bahnhofstraße (?) gefahren…
Da noch eine Ziege (und Hühner) auf dem Hof vorhanden waren, bekam meine Großmutter Regina, geb. Weinrich, (1897-1975), die „Genehmigung“, jeden Morgen zum Melken ins Haus zu kommen…
Einige Vorräte waren kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner noch im sogenannten Schuppen (daneben Stallgebäude) auf dem Grundstück unter einem sehr großen Holzstapel eingegraben worden. Da es jedoch noch kalt war, verheizten die Amerikaner sehr bald das Holz und fanden natürlich die Vorräte… (eingekochte Gläser).
Nach dem Abzug der Amerikaner später waren u.a. sämtliche Schränke ausgeräumt, das ganze Geschirr irgendwie gebraucht, teilweise defekt, stand wild durcheinander in den Räumen herum - es muss schlimm ausgesehen haben…
Leider wiederholte sich die Situation exakt nach dem Abzug der Amerikaner - im Juli 1945 besetzten russische Soldaten das Haus mit der gleichen Situation, auch mit einem Wachsoldat im Dachfenster…, nur, dass diese Soldaten noch einige Jahre länger bis zirka 1948 eine Teil-Etage im 1. Obergeschoss requirierten und dort ein russischer Offizier mit seinem Burschen Boris (?) untergebracht war.
Man muss sich, nach den Erinnerungen meiner Mutter Mathilde (1928-2003), dies so vorstellen können, dass der Bursche dann in der Küche im Erdgeschoss bei meiner Großmutter saß und mit ihr in gebrochenem Deutsch „Gespräche“ führte etwa über das Alltagsleben - von Kartoffel schälen bis Strümpfe stopfen (… unbekannt) oder das Vorhandensein von elektrischem Licht oder Wasserleitungen bis ins Haus (… unbekannt) …
Meine Mutter Mathilde, die 17-jährig in der Ausbildung zur Krankenschwester im Sankt- Vinzenz-Krankenhaus zu Heiligenstadt sich in der Zeit befand, hatte auf Grund einiger schlimmer Vorkommnisse… nicht unbegründete Angst, bei ihren Dienst-Rückwegen nachts ohne Beleuchtung den Berg hinauf … sie war immer froh, wenn sie der Blinden-Hund ihres Vaters an einem kleinen Zwischenweg „abholte“… und bis nach Haus begleitete.
Erst nach dem Abzug der Besatzungstruppen ca.- 1948 normalisierte sich das Leben auch in dieser Familie Rhode wieder einigermaßen. Bis die ersten der fünf Kinder (Jg. 1924, 1926, 1928, 1936, 1939), drei Mädchen, ab 1951, dann 1955 (Elisabeth nach Oberkochen, Baden-Württemberg) - vgl. Geschichte 17. Juni 1953 & Richard Stumpf, Schwager meiner Mutter) in die Westzonen wechselten… -
Eine Schwester, Klara, Jahrgang 1926, die den verheerenden Bombenangriff auf Nordhausen am 4. April 1945 im Bereich des Nordhäuser Bahnhofs erlebte und überlebte, lernte ihren späteren Mann im Kriegs-Durchgangslager in der Heiligenstädter Oberschule (Gymnasium) kennen und ging nach 1951 nach Peine (Niedersachsen); insgesamt gingen drei (Mädchen) der fünf Kinder bis 1959 in den „Westen“…