von Matthias Heinevetter - 17.06.2023
Am 17. Juni 1953 protestieren etwa eine Million Menschen in Ostberlin und in der DDR weitestgehend friedlich gegen die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. Dabei äußern sie ihre Unzufriedenheit und ihren Unmut über auch wachsende soziale Probleme, Repression und Bevormundung durch den DDR-Staat und die SED-Führung so wie die Staatsorgane. Der rigide Führungsanspruch der SED reichte in alle gesellschaftlichen Bereiche, bis in die letzten Betriebsstätten und auch in das Gewerkschaftswesen hinein (FDGB). Von dieser Protest-Situation ist die SED-Führung in Berlin vollkommen überfordert. Die Sowjetunion unter dem noch nicht gefestigten Regime unter Regierungschef G. Malenkow, Parteisekretär N. Chrustschow, nach Stalins Tod im März 1953, reagiert mit Härte - sie verhängt als noch de facto Besatzungsmacht den Ausnahmezustand. Es wird massiv Militär eingesetzt, Volkspolizei und Staatssicherheit schlagen den Aufstand brutal nieder, es sind Opfer zu beklagen. Es kommt zu Verhaftungs- und Anklagewellen bis ins Jahr 1954 hinein. (vgl. Lebendiges Museum online)
Ein Zeitzeuge und persönliches Beispiel dieser Situation ist für das Eichsfeld und Heiligenstadt Richard Stumpf. Er war Betriebsgewerkschaftsratsvorsitzender (BGL) im Heiligenstädter Kleinmetallwarenwerk (MEWA) und hatte den Mut, bei einer Betriebsversammlung anlässlich des 17. Juni 1953 zur verlogenen DDR-Propaganda Stellung zu beziehen. Die Belegschaft spendete begeistert Beifall, doch brachte ihm seine mutige Rede ein Jahr Gefängnisstrafe ein. Wenn man von einer „Kneipenrevolution“ in Großbartloff und unbedeutenden Unmutsäußerungen absieht, war Richard Stumpf im Eichsfeld der Einzige, der es wagte, öffentlich zum 17. Juni Stellung zu beziehen und Konsequenzen einzufordern. Eine gewisse Widerspenstigkeit zeigte die Betriebsbelegschaft des Kleinmetallwarenwerkes, weil sie trotz erheblicher staatlicher Einflussnahme hinter ihrem Kollegen stand.
Der gleichnamige Vater Richard Stumpfs (1892-1958) war von Beruf Zinngießer, hatte lange bei der Kaiserlichen Marine, auch während des 1. Weltkriegs (1914-1918), gedient und wurde durch seine Schriften über Themen zur Kriegsmarine und deren Versagen im 1. Weltkrieg bekannt - er war Sachverständiger vor dem Untersuchungsausschuss der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages (1919–1928).
In den Zeiten der Wirtschaftskrise um 1928 war Stumpf arbeitslos geworden, fand über die katholische Kolpingbewegung schließlich 1931 in Heiligenstadt eine Anstellung als Herbergsvater im Mainzer Hof in Heiligenstadt, einer Einrichtung des Kolpingwerks in der Stubenstraße. Hier im Mainzer Hof wohnte auch die Familie.
Richard Stumpf Junior war zwar 1927 in Nürnberg geboren, kam jedoch als Dreijähriger nach Heiligenstadt und wuchs im Umfeld der Kolpingfamilie und der Propsteigemeinde „St. Marien“ auf. In dieser Pfarrei wurde er in den 1930-Jahren Messdiener, später war er in der Pfarrjugend aktiv.
Er besuchte von 1934 bis 1942 die Volksschule und begann am 01.04.1942 eine Lehre als Feinmechaniker bei der renommierten Firma Carl Zeiss - Lehrwerkstatt - in Heiligenstadt. Seine Facharbeiterprüfung musste er wegen der bevorstehenden Einberufung zum Wehrdienst schon im zweiten Lehrjahr, im Herbst 1944, ablegen. Der Facharbeiterbrief sowie das Prüfungszeugnis ist auf den 31.12.1944 datiert.
Eine Tätigkeit in seinem erlernten Beruf konnte er jedoch nicht aufnehmen, da unmittelbar nach dem 17. Geburtstag am 21. Dezember, wegen der Kriegslage, der Gestellungsbefehl zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eintraf. Unmittelbar nach seinem 17. Geburtstag, noch in den letzten Dezembertagen 1944, wurde er zum Reichsarbeitsdienst (RAD) einberufen und nach einer verkürzten Tätigkeit im Frühjahr 1945 zur Kriegsmarine eingezogen. Eine reguläre Ausbildung konnte kaum noch stattfinden. Dennoch war sein letzter Dienstgrad Matrose.
Nach dem Kriegsende im Mai 1945 geriet Richard Stumpf in kanadische Gefangenschaft, aus der er am 04.07.1945 entlassen wurde. Das diesbezügliche Dokument der amerikanischen Militärregierung ist mit „Fulda, 29.08.1945“ datiert. Von dort aus begab sich Stumpf zurück nach Heiligenstadt.
Zunächst hatte er, wie er in seinem Lebenslauf 1948 schreibt, die Hoffnung, wieder bei Zeiss arbeiten zu können, was sich jedoch als nicht realisierbar erwies. Die Zeiss-Werkstätten waren inzwischen aufgelöst. Auch die Absicht, am Zeiss-Technikum zu studieren, zerschlug sich wegen der Demontage der Zeiss-Werke in Jena durch die amerikanische Besatzungsmacht bis zum 05.07.1945 (dann wechselte die Besatzungsmacht).
Daraufhin trat er, da dringend Arbeit suchend, als Werkzeugschlosser – Schnittmacher - bei der Firma Engelmann & Co. seine Arbeitsstelle an, dort, wo örtlich in Heiligenstadt die Zeiss-Werkstätten angesiedelt gewesen waren.
Bereits Ende Juni 1945 fand im Mainzer Hof unter Leitung von Hugo Dornhofer die Gründungsversammlung der CDU statt. Richard Stumpf sen. war Gründungsmitglied, der Sohn trat am 07.03.1946 bei. Es folgten Mitgliedschaften beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF). Bei letzterer wurde er sogar in den Kreisvorstand gewählt.
Schon im Jahre 1946 war er Mitglied des Betriebsrates und des Landesjugendausschusses geworden. 1947 nahm er an mehreren Lehrgängen des FDGB in (Jena-) Lobeda teil. Anschließend wurde er im Herbst 1948 als Sekretär der Industriegewerkschaft Metall im Kreise Heiligenstadt übernommen. In dieser Funktion war er fast ein Jahr tätig, beendete diese Tätigkeit jedoch auf eigenen Wunsch. Es kann mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass dies aufgrund des zunehmenden politischen Drucks auf nicht SED-Mitglieder geschah, denn 1948 mussten mehrere führende demokratisch gesinnte CDU-Mitglieder auch im Landkreis Eichsfeld und in Heiligenstadt ihre Positionen zwangsweise verlassen.
Als am 14. August 1946 in Heiligenstadt zwei Plakate mit der Aufschrift: „Religion ist Opium fürs Volk. So sagt K. Marx, der Begründer des neuen Sozialismus“ prangten, wurde von der Staatsmacht die sehr aktive Jugendgruppe der Propsteigemeinde verdächtigt. 11 Jungmänner kamen ins Visier der Ermittler. Richard Stumpf und seine Freunde Karl Trost, Rudi Ohrenschall und Pat Franke wurden drei Tage inhaftiert und verhört. Sie waren jedoch nicht für die Plakataktion verantwortlich.
Gleichzeitig war Stumpf jedoch auch nebenberuflich kurz nach Kriegsende 1946/1947 als Gitarrist bei einer Kapelle in Heiligenstadt tätig. Im Jahre 1946 ging Richard Stumpf für etwa 6 Wochen „illegal“ nach Westdeutschland, wo er wegen unbefugten Grenzübertritts 14 Tage inhaftiert war.
Im Jahre 1951 versuchte Richard Stumpf, bei der Firma Engelmann & Co., die inzwischen volkseigen geworden war, VEB MEWA, wieder beschäftigt zu werden, was ihm jedoch in dieser Zeit nicht gelang.
Daraufhin ging er dringend Arbeit suchend, nochmals „illegal“ nach Westdeutschland und arbeitete in Duderstadt in einem Reißverschlusswerk. Von dort aus ergab sich die Möglichkeit zur Tätigkeit als Musiker im irischen Zirkus Fosset. Die Fahrtroute führte über Ostende, Dover, Dublin nach Irland.
In Irland blieb Stumpf letztlich jedoch nur kurze Zeit und kehrte am 15.09.1951 in die DDR zurück. Hier konnte er endlich am 16.10.1952 erneut eine Tätigkeit im VEB MEWA, Heiligenstadt, aufnehmen.
Noch 1952 wurde er dort Brigadier in der Stanzerei und im Jahre 1953 übernahm er die Tätigkeit des BGL-Vorsitzenden. Mit dem Ziel der Erlangung der Zulassungsvoraussetzungen zum technischen Studium nahm er an Kursen der Volkshochschule teil und legte im November 1953 seine Prüfung ab. Dies berechtigte Stumpf, ein Fernstudium an der technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt zu absolvieren.
In seiner Arbeitsstelle wurde Richard Stumpf mehrmals mit Prämien bedacht, zwei von ihm eingereichte Verbesserungsvorschläge im Neuererwesen wurden anerkannt und prämiert.
Als ehemalige Kriegsteilnehmer aus Dankbarkeit für eine glückliche Heimkehr im September 1948 am Dün ein Großkreuz (das Heiligenstädter Dünkreuz) errichteten, war Stumpf einer der Hauptakteure. Ein günstiger Standort für das Kreuz musste nun gesucht werden. Es wurden verschiedene Standorte in Augenschein genommen und zuletzt das Dünberg-Plateau (433 m über NN) ausgewählt. Der im Volksmund als „Schöne Aussicht“ bezeichnete Platz war von der Stadt aus sehr gut sichtbar und von hier aus konnte die ganze Stadt überblickt werden.
Ein geeigneter Stamm – in einer Höhe von mindestens 13 Metern - wurde seinerzeit mit vielen Mühen aus Lieferungen von Bruchholz aus dem Thüringer Wald von einem örlichen Zimmermeister bearbeitet und zur Verfügung gestellt. Mit einem Traktor und Langholzanhänger wurden die Kreuzbalken auf das Dünplateau gefahren. Zum Aufstellen des Kreuzes waren auch noch Stahlseile nötig, mit denen später eine Verspannung durchzuführen war, sowie eine Seilwinde - alles Dinge, die nur unter schwierigsten Bedingungen und großem Einsatzes verschiedener Akteure beschafft werden konnten.
Besonders mühevoll war das Ausheben des Loches für den Stamm. Da es etwa einen Meter tief werden sollte, musste der steinige Untergrund mit einer schweren Eisenstange, später Spitzhacke, Stück für Stück abgetragen werden; in der Endphase des Aushubes musste das gelockerte Gestein kopfunter mühevoll per Hand aus dem Loch geholt werden.
Ein Foto zeigt Richard Stumpf 1948 vor dem aufgerichteten Kreuz mit einem Spaten in der Hand.
Das Kreuz sollte neben dem Dank für eine glückliche Heimkehr ausdrücken, dass der Christusglaube allen Feinden zum Trotz in der Stadt und im Eichsfeld bleiben soll, so formulierte es Vikar Josef Tschöp von der St. Ägidien-Gemeinde.
Nach Abschluss der Arbeiten konnte am 19. September 1948 die feierliche Einweihung vorgenommen werden. Bereits unmittelbar im Anschluss an die feierliche Kreuzweihe wurde das Kreuz beleuchtet (illuminiert), damals noch durch das Anstrahlen der am Kreuz befestigten frisch gehobelten und gestrichenen Bretter durch Scheinwerfer, welche wiederum aus 12-Volt-Auto-Batterien gespeist wurden.
Richard Stumpf war in der Pfarrgemeinde Sankt Marien in der Pfarrjugend fest integriert und sehr aktiv. Er hatte unter dem neuen Propst und Bischöflichen Kommissarius (1945-1967) Josef Streb (1893-1976), der 1945 ins Amt berufen wurde, wichtigen Anteil an einigen spektakulären Aktionen.
Am 8.12.1948 hingen in Heiligenstadt verschiedene Plakate aus. Diesmal mit der Aufschrift „Nieder mit der SED!“ Die Kriminalpolizei glaubte wieder, die Täter in den Reihen der katholischen Pfarrjugend suchen zu müssen. Es konnteen jedoch keine Beweismittel gefunden werden.
Schon zur Jahreswende 1949/1950 leuchtete von den Türmen von Sankt Marien unter dem damals noch kranzförmigem Stern zwischen den Türmen in Leuchtschrift in Großbuchstaben der weihnachtliche Bibeltext „Friede auf Erden“ - eine eindeutige, auch politische Botschaft.
Im Januar 1952 erstrahlte zwischen den Türmen die gleiche Leuchtschrift und in der Osterzeit 1952 war auf dem Nordturm ein hell erleuchtetes großes Kreuz zu sehen.
Zu Weihnachten 1952 war auf dem seltsam klein wirkenden, bis zum sogenannten Oktagon herab genommenen Turm die Aufschrift „Friede auf Erden“ installiert.
Beruflich hatte Richard Stumpf bei der Firma Hugo Engelmann GmbH in Heiligenstadt Fuß gefasst. Mit dem Betriebsleiter Siegfried Schmauser scheint er ein gutes Einvernehmen gehabt zu haben. Dieser war seit 1948 auch Vorsitzender der CDU in Heiligenstadt. Für das Dünkreuz stellte die Firma mit Schmausers Genehmigung Drahtseile zur Verfügung. Doch 1949 musste Schmauser aus der DDR flüchten. Die Nadelfabrik wurde volkseigen. Nun änderte sich der Name des Betriebes, seit 1952 hieß er VEB Kleinmetallwarenwerk, dennoch wurde er nach einer früheren Bezeichnung weiterhin „MEWA“ (Abkürzung für Metallwarenwerk) genannt.
Schon im Jahre 1946 war Stumpf Mitglied des Betriebsrates und des Landesjugendausschusses geworden. 1947 nahm er an mehreren Lehrgängen des FDGB in Jena-Lobeda teil.
Im Herbst 1948 wurde Stumpf Sekretär der Industriegewerkschaft Metall des Kreises Heiligenstadt. In dieser Funktion war er fast ein Jahr tätig. Es war eine Zeit, in der die Herrschaft der SED immer stärker hervortrat und immenser politscher Druck aufgebaut wurde. Besonders CDU-Funktionäre wurden heftig attackiert. Stumpf beendete diese Tätigkeit auf eigenen Wunsch.
Nun begann eine Zeit des Suchens. Richard Stumpf war musikalisch begabt und spielte Gitarre. 1946/1947 war er Gitarrist einer Heiligenstädter Tanzkapelle. Ein eindrucksvolles Foto zeigt die Band auf der Bühne des Mainzer Hofes.
Im Jahre 1951 versuchte Stumpf in seinem alten Betrieb, der nun volkseigen war und VEB Kleinemetallwarenwerk (MEWA) hieß, wieder Beschäftigung zu bekommen, was ihm jedoch nicht gelang. Daraufhin ging er "illegal" nach Westdeutschland und arbeitete in Duderstadt in einem Reißverschlusswerk. Von dort aus ergab sich die Möglichkeit, eine Verpflichtung als Musiker im irischen Zirkus "Fosset" anzunehmen. Die Fahrtroute führte über Ostende, Dover, Dublin nach Irland.
Am 15.09.1951 kam Stumpf in die DDR zurück. Am 30.10.1951 hatte er in der Propsteigemeinde „St. Marien“ zu Heiligenstadt Elisabeth Rhode (1924-2005) geheiratet, eine erfolgreiche junge Frau mit Wurzeln in Reinholterode. Die Familie der Eltern, des Kriegsversehrten Joseph Franz Rhode (1898-1979) und seiner Ehefrau Regina, geb. Weinrich (1897-1975), zog mit der weiteren Tochter Klara, verh. Klose, (1926-1999) im Jahre 1928 aus der Mühle in Reinholterode in das damals letzte Haus am Stadtrand am Heiligenstädter Richteberg Nr. 16 (heute 22). In diesem Haus kamen die 3 Geschwister Mathilde, verh. Heinevetter, (1928-2003), Peter (*1936) und Notburga, verh. Fischer, (*1939) zur Welt.
Elisabeth, die Älteste, war Schneidermeisterin in Heiligenstadt, beschäftigte Gesellen und Lehrlinge und war zugleich Obermeisterin der Heiligenstädter Schneiderinnung. 1952 wurde ihr erster Sohn Christoph in Heiligenstadt geboren, ebenso 1953 noch ihr zweiter Sohn Stephan.
Am 16.10.1952 konnte Stumpf im ehemaligen Betrieb, im nunmehrigen VEB Kleinmetallwarenwerk, eine Arbeit aufnehmen. Er wurde Brigadier in der Stanzerei und bereits 1953 Betriebsgewerkschafts-Vorsitzender (BGL-Vorsitzender). Mit dem Ziel der Erlangung der Zulassungsvoraussetzung zum technischen Studium nahm er an Kursen der Volkshochschule teil und legte im November 1953 seine Prüfung ab. Der Abschluss berechtigte Stumpf als Teilnehmer im Fernstudium der technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt. In seiner Arbeitsstelle wurde er mehrmals mit Prämien bedacht, zwei von ihm eingereichte Verbesserungsvorschläge wurden anerkannt und prämiert. Er war Vorsitzender der Kommission für Neuerer- und Erfindermethoden.
Die junge DDR steckte inzwischen in einer massiven Krise, die am 17. Juni 1953 offenbar wurde. Streiks in den Großbetrieben mündeten in zahlreiche Demonstrationszüge.
Am Abend des 17. Juni 1953 verfolgte Richard Stumpf die Meldungen im Westdeutschen Rundfunk und war so über die Aufstände in der DDR grob informiert. Am 18. Juni wurde „von oben“ im VEB Kleinmetallwarenwerk eine Betriebsversammlung anberaumt. Der Vorsitzende des Rates des Kreises, Willi Gleissner, schilderte im brechend vollen Versammlungsraum die „vom Westen inszenierten“ Vorgänge und die aktuelle Lage nach der Proklamierung des „Neuen Kurses". Die Regierung, so räumte Gleissner ein, habe Fehler eingestanden, jedoch für deren Beseitigung schon Maßnahmen getroffen.
Dann forderte der Funktionär zur Meinungsäußerung auf. Richard Stumpf fühlte sich als BGL-Vorsitzender verpflichtet, das Schweigen als erster zu brechen. Der Gewerkschafter kritisierte, dass es nicht damit getan sei, Fehler einzusehen und zu korrigieren. Die Verantwortlichen müssten abgelöst werden. Laut Sitzungsprotokoll folgte von den Kollegen „orkanartiger Beifall.“ Anschließend forderte Gleissner den Stellvertreter des Parteisekretärs der Betriebsparteiorganisation auf, Stellung zu beziehen. Doch der äußerte zum Missfallen Gleissners: ,,Jawohl, es ist richtig, was der Vorsitzende der BGL gesagt hat, man müsste die Menschen ablösen, die Fehler gemacht haben." Die Solidarität der Kollegen machte den Plan der SED-Funktionäre zunichte, dass die Belegschaft selbst die Bestrafung des BGL-Vorsitzenden fordere. Aber hinter den Kulissen wurden bereits die Fäden gezogen, um im „Fall Stumpf“ ein Exempel zu starten.
Während der SED-Mann in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurde, wurde Richard Stumpf Monate später, am 18. Januar 1954, kurz vor 22 Uhr, von zwei Beamten in Zivil „zu einer Besprechung“ aus seiner Wohnung abgeholt und in die Volkspolizei-Dienststelle in der Ägidienstraße überführt. Den Grund erfuhr er nicht, niemand beantwortete die Fragen des bang Wartenden. Nach zwei Stunden kam er in das Heiligenstädter Gefängnis, das sich im heutigem Alten Rathaus befand. Stumpf kannte es, weil er hier schon 1946 drei Tage inhaftiert war.
Beim Einkassieren der persönlichen Dinge, auch des Inhalts der Brieftasche, war der Verhaftete herzlich froh, dass seine Frau rechtzeitig eine Fahrkarte nach Berlin an sich genommen hatte. Am nächsten Tag wollte er sich nämlich in den Westen absetzen.
Erst am 20. Januar 1954 wurde von Kreisgerichtsdirektor Truppat der Haftbefehl unterschrieben.
Stumpf wird darin „beschuldigt am 18.06.1953 in Heiligenstadt den Frieden des deutschen Volkes dadurch gefährdet zu haben, dass er Hetze betrieb, indem er in einer Belegschaftsversammlung des VEB MEWA Heiligenstadt forderte, dass die Funktionäre der Regierung der DDR sowie allgemein die Funktionäre ihre Fehler einsehen und ihre Posten und Ämter zur Verfügung stellen. Verbrechen nach Art. 6 der Verfassung der DDR KD 38 Art. III AIII.“
Weiter heißt es: „Er ist dieser Straftat dringend verdächtig und da ein Verbrechen Gegenstand der Untersuchung bildet“, bestehe Fluchtverdacht und wegen noch anzustellender weiterer Ermittlungen auch Verdunklungsgefahr.
Drei Monate währte die Haft in der Ratsgasse zu Heiligenstadt. Sie war im Gegensatz zu dem, was folgte, noch „erträglich“. Im April 1954 wurde Stumpf für sechs Wochen in die Haftanstalt Weimar verlegt. Sein Fall sollte vor dem Bezirksgericht Erfurt verhandelt werden. Der Heiligenstädter kam in eine Einzelzelle. Am 13. April 1954 war die Verhandlung. Die Aussagen der geladenen Zeugen aus dem VEB Kleinmetallwarenwerk in Heiligenstadt fielen jedoch allesamt zu Gunsten des Gewerkschafts-Vorsitzenden aus. Für das Verhalten seiner Kollegen war Stumpf zeitlebens dankbar.
Die Anklage hatte auf Verbrechen nach Artikel 6 Absatz II der Verfassung der DDR und Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Artikel III A III gelautet. Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts sah dann aber doch keine gegen die Verfassung gerichtete „Boykotthetze“ in den Äußerungen Stumpfs. Aber als erfüllt sah das Gericht die „Tatbestandsmerkmale der Kontrollratsdirektive 38“ an. Der Angeklagte habe am 17. Juni 1953 die Nachrichten über den westdeutschen „Hetzsender“ gehört und die „Hetzsendung“ seinem Diskussionsbeitrag zur Grundlage gelegt. Mit seinen Forderungen habe er „tendenziöse Gerüchte verbreitet, die geeignet waren, den Frieden des deutschen Volkes und der Welt zu gefährden.“
Im Namen des Deutschen Volkes wurde Stumpf zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt. Dem Urteil waren „Sühnemaßnahmen“ hinzugefügt. So hätte Stumpf unter anderem kein öffentliches Amt bekleiden dürfen und keine aus öffentlichen Mitteln zu zahlende Pension beanspruchen können. Er verlor das aktive und passive Wahlrecht und unterlag Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen. Er verlor das Recht, ein Fahrzeug zu halten.
In der Strafvollzugsanstalt Gotha begann für Stumpf der Gefängnisalltag – ohne jede Arbeit – was den Inhaftierten stark belastete.
Die Haftbedingungen als politischer Häftling müssen nach heutigen Begriffen menschenunwürdig gewesen, kleinste Einzelzellen zum Beispiel, rigoroser Kasernenhofkommandoton und kaum vorstellbare “Kasernenmethoden” und Schikanen der schlechtesten Art (u.a. Nachts geweckt werden, komplett entkleiden, Untersuchung und Wechsel in eine andere Zelle) – der Mensch sollte zum nichts degradiert werden. Zu enge Kontakte der Häftlinge untereinander waren untersagt. Besonders die ständigen Kontrollen belasteten ihn.
Am 03.08.1954 wurde Richard Stumpf bis zu seiner Entlassung im berüchtigten Stasi-Gefängnis der Erfurter Andreasstraße inhaftiert.
Dennoch betont Richard Stumpf in seiner Erinnerung immer wieder, dass einzelne Funktionsträger hinter ihrer offiziellen “Funktionsmaske” noch einen gewissen Rest von Menschlichkeit besaßen. Hier ist von Stumpf selbst ein Zeugnis der Menschlichkeit in dunkelster Zeit und unmenschlicher Umgebung überliefert. Zum Heiligen Abend 1954, um Mitternacht, machte es ein Bediensteter des Wachpersonals unter erheblicher Eigengefahr möglich, dass Stumpf im Hof des Gefängnisses die berühmte Gloriosa-Glocke des Erfurter Domes einige Minuten direkt hören konnte.
Nachgetragen sei an dieser Stelle folgende Begebenheit: 50 Jahre später, im Juli 2004, war ein 8 cm langer Haarriss in der größten freischwingenden Glocke des Mittelalters festgestellt worden.
Sie war gegossen worden im Jahre 1497 von Meister Gerhardus de Wou van Kampen - einer der berümtesten Glockengießer des Spätmittelaters - für die größten Kirchen und Dome in Osnabrück, Hamburg, Lüneburg, Erfurt, Braunschweig und viele andere schuf er prachtvolle Geläute, die leider zum Teil im Laufe der Jahrhunderte verloren gingen. Etwa 130 Glocken, die mit seinem Namen signiert sind, existieren heute noch. Die Gloriosa wurde direkt auf dem Erfurter Domberg gegossen.
Damit musste die 500 Jahre alte Gloriosa mit ihren 11,5 Tonnen Gewicht einer dringenden Reparatur unterzogen werden. Die Glocke wurde erstmalig in einer äußerst komplizierten Aktion per Großkran aus dem Turm des Erfurter Mariendomes gehoben, um sie zur Reparatur nach Nördlingen, unweit von Oberkochen, zu bringen. Richard Stumpf nutzte diese unerwartbare Gelegenheit, der Gloriosa einmal direkt und unmittelbar zu begegnen, was ihn 50 Jahre nach dem Weihnachtstag 1954 emotional sehr berührte.
Zwischenzeitlich gab es in der Haftzeit 1954/1955 immer wieder Bemühungen, sowohl durch den Rechtsanwalt Richard Stumpfs, als auch von Betriebsangehörigen der MEWA und ihm selbst mit dem Mittel eines Gnadengesuchs, mit Blick auf seine Familie und die zwei sehr kleinen Kinder, eine vorzeitige Haftentlassung zu erreichen. Die Bemühungen waren ohne Erfolg.
Es sei nachgetragen, dass auch sein Vater Richard sen. (1892–1958), geb. in Gräfenberg/Bayern, gest. in Heiligenstadt, Herbergsvater im Kolpinghaus, Mitbegründer der CDU in Heiligenstadt, von der Staatssicherheit in Haft genommen wurde. Vom 23. März 1954 bis zum 26.Juni 1954 war er eingesperrt und verhört worden. Die ihm vorgeworfenen Beschuldigungen konnten in der Untersuchung jedoch nicht bestätigt werden.
Nach der Haftentlassung im März 1955 verließ Richard Stumpf jr. zeitnah noch im März über Westberlin die DDR und musste seine Frau und zwei Kinder zunächst zurücklassen. Als ehemaliger Zeiss-Mitarbeiter fand er, gemäß seines Werksausweises datiert vom 21.03.1955, Arbeit bei Carl Zeiss in Oberkochen / Baden-Württemberg, wo sich die berühmte Firma niedergelassen hatte. Zunächst konnte er Unterkunft in einem Männerwohnheim vor Ort finden.
Im Dezember 1955 kam seine Ehefrau Elisabeth mit den zwei Kindern schließlich nach. Das war nur durch eine äußerst verwirrende und bestens ausgeklügelte Reiseplanung unter Mithilfe des Kriegsversehrten (blinden) Vaters, Joseph Franz Rhode (1898-1979), der vorgeblich seinen Kriegskameraden des 1. Weltkriegs in Süddeutschland besuchen wollte, möglich. Die staatlichen Stellen durchschauten nicht die Zusammenhänge und genehmigten die Reise in die Bundesrepublik. In den 1950-er Jahren wechselten 2 Schwestern der Ehefrau ebenfalls in die Westzonen, um dort mit ihren Familien in Baden-Württemberg (Aalen) bzw. Niedersachsen (Peine) heimisch zu werden.
In Oberkochen, wo in diesen Jahren fast täglich Flüchtlinge aus der DDR eintrafen, baute sich die Familie eine neue Existenz auf, 4 weitere Kinder wurden geboren, dabei verstarb ein Mädchen bei der Geburt.
Stumpf qualifizierte sich 1960 zum IHK-Industrie-Meister. Anfang der 1960er Jahre wechselte er in den Bereich Relais-Rechenmaschinen (heute als Computer bezeichnet) und wurde damit Mitglied des Teams, das seinerzeit die EDV in Oberkochen aufbaute. Da die ersten Computer bei Zeiss von Konrad Zuse geliefert wurden (Zuse 22 - erster kommerzieller Röhrenrechner in Westdeutschland, sepzeille ausgeliefret für Universitäten, Hochschulen, Forschung), lernte er den begnadeten Erfinder persönlich kennen. In der EDV-Abteilung blieb Stumpf bis zu seiner Pensionierung 1987/1988.
Richard Stumpf war zeitlebens ein sozial umtriebiger Mensch. Er war Initiator und Leiter der katholischen Arbeitnehmerbewegung. Für seine Verdienste in der CDU-Oberkochen wurde er 1990 mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet. Viele Jahre war er ihr Vorsitzender gewesen. 2006 (79. jährig) konnte er zum 60. Gründungstag als Ehrenmitglied noch begrüßt werden.
30 Jahre war Stumpf im Ausschuss des Stadtverbandes vertreten, davon 20 Jahre als stellvertretender Vorsitzender. Zudem zählte er zu den aktiven Mitarbeitern in der katholischen Kirchengemeinde. Richard Stumpf hat in seiner neuen Heimat tiefe Spuren hinterlassen.
Sprichwörtlich war die große Gastfreundschaft der Familie Stumpf im Silcherweg 13 in Oberkochen, die sich nachhaltig in den Erinnerungen der Freunde und Verwandten festgehalten hat.
Die Familie Stumpf konnte erst im August 1963 mit den 5 Kindern, jedoch ohne den Vater Richard, nach Heiligenstadt zu den Eltern beziehungsweise Großeltern einreisen. Der nächste Besuch datiert vom Juli 1965. Richard Stumpf selbst konnte erst im Frühjahr 1971 wieder nach Heiligenstadt einreisen. Diese Besuche fanden noch per Eisenbahn statt und waren kompliziert, da über Eisenach-Gerstungen eingereist werden musste. Ab 1973 waren die Besuche durch den kleinen Grenzverkehr und den Grenzübergang Duderstadt-Teistungen erleichtert möglich. So weilte die Familie um Richard Stumpf und Ehefrau Elisabeth zur Goldenen Hochzeit der Eltern beziehungsweise Schwiegereltern im April 1973 mit den 5 Kindern in Heiligenstadt.
Nachdem Richard Stumpf ab Anfang der 1970er Jahre wieder in die DDR einreisen durfte, aber insbesondere auch nach der Wende 1990, hat er bei jedem Aufenthalt in Heiligenstadt nicht nur die Verwandtenbesuche gepflegt, sondern auch die Kontakte zu den alten Kollegen aus der MEWA gelebt. Hier sei beispielgebend Fritz Dellemann (*1929) aus Heiligenstadt erwähnt.
Die Rehabilitierung seines Vaters Richard Stumpf, Senior, wurde von Richard Stumpfs Bruder Lothar Stumpf 1993 beim Bezirksgericht in Erfurt erreicht.
Auch Richard Stumpf, jun., wurde durch Beschluss des Zweiten Senats für Rehabilitierungssachen am Bezirksgericht Erfurt, datiert vom 26. September 1991, vollständig rehabilitiert - das Urteil des Bezirksgerichts Erfurt vom 13.04.1954 vollständig aufgehoben. Zugleich wurde mit der Rehabilitierung ein Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen erreicht. Das menschenrechtswidrige Urteil der DDR-Justiz aus dem Jahre 1954 für null und nichtig erklärt.
In der Rehabilitierungsentscheidung wird ausdrücklich erwähnt und darauf Bezug genommen, dass Richard Stumpf am 18.06.1953 seine Meinung zum System und zur Regierung der DDR frei und offen geäußert habe. Bei diesem Verhalten handelte es sich um die Wahrnehmung des politischen Grundrechts zur freien Meinungsäußerung, welches selbst nach Artikel 9, Absatz 1 der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 gegeben war. Es wurde also ein systembedingtes Unrecht in der Entscheidung von 1954 festgestellt und damit aufgehoben.
Kurzbiographie
21.12.1927 geboren in Nürnberg
1931 kam als Dreijähriger nach Heiligenstadt
1934-1942 Schulbesuch in Heiligenstadt (Knabenschule)
1942-1944 Lehre bei Zeiss in Heiligenstadt & Göttingen
1945 Kriegsende und Entlassung aus der Marine
1946 Eintritt in die CDU
1948 aktiv bei der Errichtung des Heiligenstädter Dünkreuzes
18.06.1953 Stellungnahme zum Aufstand in der DDR als Vorsitzender der Betriebsgewerkschaftsleitung des Kleinmetallwerkes in Heiligenstadt
1954–1955 Haft und anschließende Flucht über Westberlin in die Bundesrepublik
1955–1989 Facharbeiter, 1960 Meisterprüfung bei Zeiss in Oberkochen, Mitglied des neu aufzubauenden EDV-Teams, persönlicher Kontakt zu Konrad Zuse
1955–2007 2007 ehrenamtliches Engagement in der CDU-Oberkochen, Stadtausschuss, Seniorenunion
05.03.2007 gestorben in Oberkochen
Bibliographie:
Lebenserinnerungen zu den Vorgängen am 18. Juni 1953 und der anschließenden Haft. Manuskript, Maschinenschrift von 2003.
Anklageschrift/Urteil Bezirksgericht Erfurt, 19.03.1954 bzw. 13.04.1954.
Rehabilitierungsentscheidung des Zweiten Senats für Rehabilitierungssachen am Bezirksgericht Erfurt, vom 26. September 1991.
Literatur, Links:
Heinevetter, Matthias: Das Heiligenstädter Dünkreuz. Cordier Satz & Druck, 1. Auflage 2003, Cordier Druck Medien, 2. Auflage 2023.
Lauerwald, Paul: Richard Stumpf (1892–1958) und sein Wirken auf dem Eichsfeld. In: EJb 26 (2018), S. 285-300
Köckritz, Monika: Noch heute überaus dankbar für die Solidarität der Kollegen. In: Thüringer Landeszeitung. 2003, genaues Datum nicht bekannt.
Siebert, Heinz: Das Eichsfeld unter dem Sowjetstern. Duderstadt 1992.
Richard Stumpf. Der CDU-Stadtverband trauert um sein Gründungs- und Ehrenmitglied. Schwäbische-Post, 12.03.2007.
Serie »Oberkochen - Geschichte, Landschaft, Alltag« Richard Stumpf (1928–2007). Wie die Familie Stumpf nach Oberkochen kam. Bericht 674. www.heimatverein-oberkochen.de/berichte/bericht674.htm.
Die Verbindung zur Fam. Rhode-Stumpf in Heiligenstadt/Oberkochen-Richard Stumpf sen. & jun.
www.herrenschmiede-heinevetter.de/heinevetter-fam-rhode-stumpf/.
CDU-Kreisverband Ostalb - 2006 - Festakt „60 Jahre CDU – Oberkochen“ (cdu-ostalb.de)
Archive:
Familienarchiv Heinevetter, Heiligenstadt: u.a. CDU-Mitgliedsausweis von 1946, Ahnentafeln.
Familienarchiv Stumpf, Angelika Vogelsang, Oberkochen.
Bilder - ebenda
Matthias Heinevetter, Heiligenstadt in Zusammenarbeit Familie Stumpf sowie Peter Anhalt, Steinbach (Vors. VEH e.V.)