Paul Erckrath - Dünkreuz-Mitinitiator besucht Heiligenstadt

76 Jahre Heiligenstädter Dünkreuz

von Matthias Heinevetter - 19.05.2024

Am Samstag, 4. Mai 2024, besuchte Paul Erckrath aus Landwehrhagen, im 94. Lebensjahr stehend, seine Heimatstadt Heiligenstadt und das Heiligenstädter Dünkreuz. Paul Erckrath ist ein, und wahrscheinlich der letzte noch lebende, Zeitzeuge der Errichtung dieses großen Kreuzes auf dem Dün bei Heiligenstadt im Jahre 1948. Der Kontakt kam über seinen Verwandten, Jürgen Engelhard aus Hannover - sein Vater ist ein Cousin von Paul Erckrath - zu Stande. Jürgen Engelhard, der anlässlich der letzten Jahrestagung des Arbeitskreis Eichsfeld der Familienforscher im Herbst 2023 in Heiligenstadt erkennen ließ, dass er bei der Vorstellung der neuen Dünkreuzbroschüre von 2023 seinen Onkel 2. Grades, eben jenen Paul Erckrath, wiedererkannt habe.

Umgehend wurden durch den Autor Anstrengungen unternommen, um die Kontakte nach Kassel-Baunatal, zur Tochter Sabine Erckrath, und zu Paul Erckrath selbst in  Landwehrhagen/Niedersachsen herzustellen. Daraus entwickelte sich sehr bald der Wunsch, noch einmal Heiligenstadt und das Dünkreuz besuchen zu können.

Als Termin wurde der erste Samstag im Monat Mai 2024 gefunden.

Dünkreuzbesuch - 4. Mai 2024

Die Besuchsgruppe konnte Dank einer freundlichen Sondergenehmigung des Stadtforstes Heilbad Heiligenstadt mit dem Kraftfahrzeug über den Forstwirtschaftsweg im Dachstal (nach Geisleden hin) sich den sonst ja recht beschwerlichen Weg zum Dünkreuz erleichtern und das Kreuz noch einmal besuchen. Hier ergaben sich sehr bewegende Momente.

In den Gesprächen mit Paul und seinen beiden Verwandten zeigten sich spannende Erinnerungen an die Zeit zurück, der Kreuzerrichtung 1948, der 1950-er Jahre mit Pauls Flucht in den „Westen“ Richtung Kassel. Mehrfach kehrte er in den ersten 1950-er Jahren "illegal" von Kassel mit Motorrad (NSU 350-er Maschine) nach Heiligenstadt zurück - immer die Bewegungen der Grenzposten der seinerzeit nur schwach befestigten Grenze an der Werra / Wahlhausen beachtend. Manchmal auch einige Zeit mit dem Motorrad wartend im Gebüsch liegend, bis der Posten vorbeigezogen war, und sodann im "Polizeigang" (Leerlauf - Motor aus) der schelle Weg bergab über die Grenzstraße genommen werden konnte - es war immer ein Abtenteuer.

Paul bekam nach einigen Umwegen Mitte der 1950-er Jahre eine Arbeitsstelle beim VW-Werk in Baunatal, wo er - nach diversen Qualifizierungen bis zum Meister - bis zu seinem Ruhestand in den 1990-er Jahren arbeitete. Noch heute fährt er voll Freude ein Fahrzeug aus der VW-Flotte. 

Stets bemühte er sich um auch den Wechsel seiner Eltern "in den Westen" nach Kassel; die Übersiedlung wurde durch die DDR-Behörden jedoch jahrelang verzögert, sodass seine Mutter Anna 1966 noch in Heiligenstadt verstarb, sein Vater WiIhelm anschließend nach Kassel übersiedelte, wo er noch bis 1972 lebte.

Als kuriose, spannende Anekdote ergab sich aus der Frage, wo / bei wem Paul denn seine Fahrprüfung gemacht habe - die Antwort "bei der Fahrschule Albert Heinevetter in Kassel" - dies erzeugte ein deutliches Schmunzeln beim Autor, denn Albert Heinevetter (1901-1997) war der Großonkel des Autors, der 1957 ebenfalls von Heiligenstadt nach Kassel  "in den Westen" gewechselt war und aus der Herrnschmiedefamilie Heinevetter in Heiligenstadt stammte, zweit jüngstes von 13 Kindern von Herrnschmied Franz-Xaver Heinevetter (1857-1942) und seiner Ehefrau Katharina, geb. Wiegel,(1865-1920).

Albert Heinevetter sen., musste den Ersten Weltkrieg nicht mehr mit machen, wie sechs seiner Brüder, war von Beruf Mechaniker und  u.a. bei der Fa. Bierschenk in Heiligenstadt angestellt; zudem ebenfalls begeisterter Motorradfahrer und Hobby-Musiker (zusammen mit seinem Bruder Karl Heinevetter (1903-1984), kfm. Angestellter, u.a. Prokurist bei Papierfabrik Fa. Lovis in Heiligenstadt.

Albert Heinevetter sen. war es auch, der über seine Firma Bierschenk einer der ersten in Heiligenstadt war, der auch ein PKW-Fahrzeug fahren durfte. Und so fügte es sich, als weiteres Kuriosum, dass er sein Patenkind, Albert Heinevetter junior (1930-2016), kfm. Angestellter, Buchhalter und vielfältig ehrenamtlich tätig, den Vater des Autors, zu dessen Taufe im Dezember 1930 mit dem Auto (DKW) zur Propstei-Kirche St. Marien in Heiligenstadt fuhr, da er nicht mit dem Kinderwagen in die Kirche schiebend gesehen werden wollte...

Zudem stellt sich spannend heraus, das Paul Erckrath (aus der sog. Neustadt stammend) und der Vater Albert des Autors (aus der sog. Altstadt) Geburtstagszwillinge sind, sind beide doch am 17. Dezember 1930 in Heiligenstadt geboren worden! und gingen gemeinsam, vermutlich in Parallelklassen, in die Jungenschule in der Heiligenstädter Altstadt!...

Rennfahrer Wilhelm Eckrath (1887-1972)

Auch über  Paul Erckraths Vater, den hier sehr bekannten Rennfahrer & Mechaniker-Meister, Wilhelm Erckrath (1887-1972), ursprünglich aus Belgien stammend, wurde gesprochen.
Seine Werkstatt befand sich am Heiligenstädter Liesebühl, Ecke Liboriusstraße. Er war verheiratet mit Genovefa Lerch (1890-1966). Die Vorfahren stammten unter anderem aus Wachstedt (Eichsfeld). Hier zu nennen ihr Vater Michael Lerch (02.12.1859-18.03.1920) – er spielte noch eine besondere tragische Rolle in Heiligenstadt (hierzu weiter unten) - und ihre Mutter Anna Gutjahr (1858- 1948). Wilhelm Erckraths Großeltern, also Ur-Großeltern von Paul Erckrath, aus Wachstedt waren Michael Heinrich Lerch & Katharina, geb. Kalbhenn.

Hier beispielhaft Wilhelm Erckraths doch recht tollkühne Teilnahmen an Motorradrennen, zum Beispiel am berühmten Eilenrieden Rennen in Hannover, Rennstrecke in der Eilenriede in Hannover von 1924 bis 1939 und von 1950 bis 1955 insgesamt 22-mal ausgetragen, wurden thematisiert - hierzu auch ein entsprechender Zeitungsausschnitt von Jürgen Engelhard recherchiert.

Erinnerung an 1939 – Flugzeugabsturz vor der Herrnschmiede

Beim Weg über den Alten Friedhof kamen wir auch zum Grab des am 10. Oktober 1939 vor der Herrnschmiede in Heiligenstadt abgestürzten Piloten Philipp Gries.

Dort wurden im Herbst 2023 zum Volkstrauertag (zentrale Gedenkveranstaltung u.a. mit Thür. Ministerpräsident Bodo Ramelow) in einem Gemeinschaftsprojekt unter anderem des Volksbundes für Kriegsgräberfürsorge (VBK), des Landes Thüringen und von Schülern des Elisabeth-Gymnasiums in Heiligenstadt Erinnerungstafeln für einzelne Kriegsopfer aufgestellt, die exemplarisch für die Geschehnisse stehen sollen - als Erinnerung und als Mahnung sowie gegen das Vergessen.

Hierbei konnte sich Paul Erckrath noch genau erinnern, dass tatsächlich am 10. Oktober 1939 zwei Flugzeuge gemeinsam ihre tollkühnen Runden über der Altstadt und um die Kirchtürme der St. Marienkirche drehten und tatsächlich eins von beiden dann im Bereich der Lindenallee abgestürzt ist.

Auch Paul lief von seinem Wohnhaus am Holzweg Nummer 8* hinunter zur Lindenallee, konnte aber nicht mehr näher an den Unglücksort herantreten, da er durch Polizeikräfte etc, bereits abgesperrt  war. Hier ergibt sich also eine weitere unerwartete Bestätigung der Zeitzeugenberichte aus dem Jahre 1939 von Albert Heinevetter (1930-2016) und Maria Rossi (Jg. 1929) aus der Herrnschmiede Heinevetter sowie bezüglich des Bildes von Karl Hüter aus dem Bestand von Georg Klingebiel, alle Heiligenstadt.

(*im Holzweg Nummer 8 wohnte auch die Familie von Otto Weinrich, Jg. 1931, einem weiteren Dünkreuz-Mitinitiator - die beiden Familien waren befreundet)

Michael Lerch (1859-1920) - Opfer des Kapp-Putsches

Der Besuch des Alten Friedhofes in Heiligenstadt hatte dazu gleich noch eine zweite Seite, nämlich die, dass zwei Verwandte, Pauls Cousin, Gerhard Engelhard (94), und seine Cousine Rosa, (89) aus Hannover mit anreisen konnten. 

Alle drei sind auch zugleich Enkelkinder von Michael Lerch (1859-1920) des lokal bekannten Opfers des sogenannten Kapp-Putsches vom März 1920.

Am Samstag, dem 13. März 1920, begann der Kapp-Lüttwitz-Putsch in Berlin. Einer Anweisung der Interalliierten Militärkontrollkommission folgend, löste Reichswehrminister Gustav Noske am 29. Februar 1920 die in der Armee hochgeachtete rund 6.000 Mann starke Marinebrigade von Hermann Ehrhardt und das Freikorps Loewenfeld auf. Dem widersetzte sich der ranghöchste General der sogenannten Vorläufigen Reichswehr, Walther von Lüttwitz, der am frühen Morgen des 13. März an der Spitze der ihm unterstehenden Marinebrigade Ehrhardt das Berliner Regierungsviertel besetzte. "Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band, die Brigade Erhardt werden wir genannt". Diese Zeile aus dem Kampflied der Brigade war deutlicher Ausdruck ihrer völkischen und agressiven nationalistischen Gesinnung. (*vgl. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/luettwitz-kapp-putsch-1920.html)

Das Eichsfeld war in dieser Zeit, nur 16 Monate nach Ende des von 1914 bis 1918 andauernden Ersten Weltkrieges, wirtschaftlich schwer angeschlagen. Der Bevölkerung setzten insbesondere Nahrungsmittelknappheit, die hohen Preise sowie Gebühren zu, erweitert noch um  Lebensmittelmangel in den Städten. Bei der gewaltsamen Übernahme der Staatsgewalt durch Kapp, ostpreußischer Generallandschaftsdirektor, rief die nach Dresden, später noch nach Stuttgart geflohene Reichsregierung Gustav Bauers (SPD-Zentrum-DDP) zum Generalstreik auf, der deutschlandweit, auch im Eichsfeld, befolgt wurde. Weil die katholischen Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände des Eichsfelds „geschlossen hinter unserer jetzigen Regierung [Bauer]“ standen, beteiligten sie sich am Generalstreik. Die Menschen im Eichsfeld sahen im Kapp-Putsch eine erhebliche Gefahr. Man lehnte den rechten Umsturzversuch ab, Kapp wurde im „Eichsfelder Anzeiger“ z.B. als „Diktator“. bezeichnet. So titelte das „Eichsfelder Tageblatt“ „Der Militärputsch – ein ungeheures Verbrechen“.

Somit wurde am 17. März 1920 auch der Aufruf der geflohenen Reichsregierung und des Reichspräsidenten veröffentlicht, weiterhin zu ihr und zur Nationalversammlung zu stehen. Heiligenstadts Landrat, Dr. Fritz v. Christen, verurteilte, nach späterer Aussage, diesen Putschversuch. Somit verweigerte das auf dem Eichsfeld vorherrschende katholische Milieu daher den Rechten die Gefolgschaft und zeigte sich über den Zusammenbruch des Putsches am 17. März recht erleichtert. (* vgl. auch „Räterepublik Heiligenstadt“ - Eine Neubetrachtung zu den Ereignissen um den Kapp-Putsch 1920 auf dem Eichsfeld von Mathias Degenhardt, Heiligenstadt, 2014)

Das Heiligenstädter Rathaus wurde am 15. März 1920 von Arbeitern unter Führung der SPD besetzt, um nach deren Einschätzung die dort lagernden Waffen vor der Abgabe an reaktionäre Kräfte zu sichern, möglicher Weise ein Irrtum/Missverständnis. Vor dem Rathaus ging ein MG-Posten in Stellung. Am 16. März 1920 wurde der Landrat v. Christen verhaftet - man warf ihm vor, Waffen nach Bornhagen/Eichsfeld versendet zu haben. Am 18. März 1920 wiederum besetzen die von Major a.D. v. Hanstein aus Göttingen herbei gerufenen etwa 200 Mann der 2. Zeitfreiwilligen-Kompanie (Studenten) des 20. Infanterie-Regiments unter Befehl v. Hauptmann Jobst v. Hanstein „von allen Seiten“ die Stadt Heiligenstadt und "eroberten das Rathaus" (für die legitime Reichsregierung) zurück.

Bei diesen Wirren kam es unglücklicherweise zu Schusswechseln, bei denen der (Transport-) Arbeiter Michael Lerch am 18. März 1920 (im Alter von 61 Jahren) tödlich verletzt wurde und noch im Rathaus  Heiligenstadt verstarb.  (* vgl. auch „Räterepublik Heiligenstadt“ - Eine Neubetrachtung zu den Ereignissen um den Kapp-Putsch 1920 auf dem Eichsfeld von Mathias Degenhardt, Heiligenstadt, 2014). Er wurde unter großer Anteilnahme auf dem Alten Friedhof in Heiligenstadt beigesetzt.

Grabstein Michael Lerch 1920 - Besuch 2024

Die kleine Gruppe besuchte mit großer innerer Bewegung auf dem Alten Friedhof (heute im Kurpark von Heiligenstadt) den erhaltenen Grabstein von Michael Lerch.

Insgesamt fügt sich dieser emotional bewegende Besuch in Heiligenstadt, am Dünkreuz und auf dem Alten Friedhof mit den persönlichen Begegnungen in die nun schon 76-jährige Geschichte des Dünkreuzes ein und schließt wiederum eine interessante noch vorhandene Lücke in der geschichtlichen Forschung und Erinnerung.