Jetzt will ich einige Erinnerungen an meinen Vater zu Protokoll geben. Zunächst eimal den Entwurf eines Aufsatzes, den ich ursprünglich
für den Erfurter Heimatbrief vorgesehen hatte, den ich aber dann nicht eingesandt habe.
"Johannes Nolte wurde am 20. Mai 1879 in Hörde (Dortmund) geboren und wuchs nach dem frühen Tod seines Vaters (bei seiner Mutter in Heiligenstadt (Eichsfeld) auf. Er besuchte dort Präparandie und das Lehrerseminar und trat 1899 seine erste Lehrerstelle in Breitenworbis (*oder Breitenbach) an.
Zu Beginn des Jahrhunderts kam er nach Erfurt und war dort lange Zeit Lehrer an der Katholischen Bürgerschule in der Schlösserstraße, bis er in den dreißiger Jahren Rektor an der sog. Hügelschule wurde. Seit 1911 war er mit der Tochter des Erfurter Taubstummenlehrers Meinhardt, Käthe Meinhardt, verheiratet und hatte mit ihr 3 Kinder.
Die Familie wohnte seit 1930 im Haus seiner Schwiegereltern, Gartenstraße 40 (am Kaiserplatz), das nicht mehr existiert. Vielfältig waren seine Interessen und Tätigkeiten: Vorsitz im Ortsverein des Zentrums, lange Jahre Zentrums-Abgeordneter im Stadtparlament, Vorsitz im Katholischen Leherverein, Organist an St. Wigbert, später an der Neuwerkskirche, Lehrer für Geige und Klavier. Seine Schüler haben ihn sehr verehrt.
In der Nazizeit war er vorübergehend amtsenthoben, weil er sich mit dem NS-Staat nicht identifizieren konnte. Er war noch mit 70 Jahren nach dem (*II. Welt-) Krieg als Grundschuldirektor tätig und starb 76-jährig am 13. September 1955 in seinem geliebten Erfurt."
1951 hat uns mein Vater in Osterrönfeld, wo wir damals wohnten, besucht, und ich gebe jetzt seine Erzählungen wieder, und zwar in zwei Fassungen, die erste hatte ich nur in Kurznotizen niedergelegt und muß sie also etwas ergänzen:
Mein Großvater, Johannes Nolte, (1852-1884?), starb an einer Lungenerkrankung, wahrscheinlich an einer Tuberkulose, er war monatelang krank. Er hatte als Gardeschütze in Potsdam gedient und wurde durch die Gründerzeit (*nach 1870/1871) ruiniert - darüber später.
Die Großmutter Katharina, geb. Heinevetter, zog dann (*um 1884) nach Heiligenstadt zurück; auf der Reise hatten sie einen Aufenthalt bei Verwandten in Treffurt (*vermutlich beim Bruder Georg Heinevetter (1848-1926), preußischer Rechungsrat, ein Sohn, Dr. Franz Heinevetter, (1885-1949), Museumsdirektor zu Gleiwitz), wo er (*der Vater, Johannes Nolte jun. (1879-1955)) unglücklicherweise in einen reißenden Bach hinter dem Haus hineinstürzte. Vater erzählte, daß die Reise von Hörde-Dortmund nach Heiligenstadt z.T. in der Postkutsche und bei Nacht passierte.
Offenbar war die Eisenbahnverbindung noch nicht fertiggestellt. Seine Mutter (*Katharina) hatte dann, weil sie von ihren Verwandten kein Geld nehmen wollte, die in Heiligenstadt lebten, - sie stammte ja aus der Herrenschmiede in Heiligenstadt - von morgens 1/2 7 Uhr bis abends 1/2 8 Uhr für 75 Pfennige außer Haus genäht. Vaters Mutter (*Katharina) war sehr energisch, sehr besorgt um ihre beiden Jungens.
Sie ließ meinen Vater jährlich ärztlich untersuchen. Sie kaufte zum Anziehen immer nur das Beste. Vaters Großvater in der Herrenschmiede, Martin Heinevetter sen. (1807-1891) nannte ihn "Dullewasser", weil er so wild war.
Dieser Großvater Martin sen. ist 82 Jahre alt geworden, und Vater erinnerte sich, daß er abends seine lange Pfeife rauchte und einen Sack Bohnen oder Erbsen vor sich hatte. Die Frauen strickten. Wenn seine Schwester Elisabeth (1812-) kam, dann sagte er wohl: "Laß uns mal vom friggen (d.h. heiraten) snacken, da arbeitet es sich so schön".
Aus dem großen Hauptbuch wurden alle Kunden alphabetisch von ihm aufgerufen, und die Gesellen und Lehrlinge riefen ihm zu, was jeder einzelne an dem Tage hatte machen lassen (z.B. Hufeisen). Es waren über siebzig Kunden. In den Weihnachtsferien schrieb Vater die Rechnungen, was ihm etwas einbrachte.
Vaters Vater stammte aus Freienhagen (Eichsfeld), wo sein Vater Schmied und Landwirt war und mit seiner Frau an der Cholera starb. Diese hieß damals "Nervenfieber". Sie hinterließen 6 "minore" Kinder, die alle später Vermögen zur Geschäftsgründung hatten.
Auch Großmutter Nolte hat später noch Grundstücke in Freienhagen verkauft. In Freienhagen starben viele Einwohner an der Lungenschwindsucht, es wurde auch viel getrunken; besonders, wenn separiert wurde (Separation = Flurbereinigung), saßen die Bauern abends in der Wirtschaft.
Die beiden ältesten Brüder von Vaters Vater, Johannes und Franz, gingen mit ihm nach Hörde (Dortmund), wo jeder einen eigenen Betrieb hatte, Johannes mit Gastwirtschaft. Nachdem dessen einziger Sohn, Paul, im Weltkrieg gefallen war, starrte er immer aus dem Fenster und wartete auf ihn.
Der Dritte, Josef, war Schuhmachermeister in Köln. Dessen Kinder - einer war Studienrat Dr. Nolte, der im Kölner Karneval eine Rolle spielte. Eine Tochter war Studiendirektorin, eine Studienrätin.
Katharina, die Schwester von Vaters Vater, blieb auf dem elterlichen Hof, heiratete einen Mann mit dem Namen Flucke. Eine Tochter dieser Eheleute heiratete einen Mann mit dem Namen Senge, deren Sohn, Dr. Senge, Oberstaatsanwalt in Berlin war.
Der letzte Bruder - Vorname nicht bekannt - muß nach Peru ausgewandert sein, denn eine Enkelin, Maria Nolte, hat an meine Schwester Mieze geschrieben. Die Verbindung kam über die Erfurter Ursulinen in Lima zustande.
Vater (Johannes Nolte (1879-1955)) war 9 Jahre in der Seminar-Übungsschule, dann 3 Jahre in der Präparandie, 3 Jahre im Seminar Heiligenstadt, zuletzt Senior. Schlafsäle zu 30 Mann. Dreimal in der Woche gab es zwei Stunden Ausgang von 2.00 bis 4.00 Uhr nachmittags, während dessen Vater zweimal einem jüdischen Jungen Geigenunterricht gab.
Ein Jahr war Vater Lehrer in Breitenbach (*oder Breitenworbis), 1899 bis 1900, ein Jahr als Einjähriger bei der Infanterie in Hildburghausen.
Sein Hauptmann von Gräwenitz hatte Schwierigkeiten mit ihm; als er bei einer Besichtigung vom Pferd fiel, hatte Vater gelacht, und der General gab die Weisung: "Melden Sie sich zur Bestrafung!"
Gerettet hat Vater die Frau des Hauptmanns von Gräwenitz, weil Vater an Kaisers Geburtstag, wo er den Chor einstudiert hatte, mit ihr getanzt hatte (1899-1901).
1901 war er in Erfurt an der Bürgerschule. Im Krieg war er reklamiert und 1915 bis 1919 lehrte an der Städtischen Vorschule, der sogenannten Kasino-Schule, wo gegen hohes Schulgeld die Söhne der Haute vole von Erfurt zur Schule gingen.
Vater gab auch Privatstunden und war auch Hauslehrer im Hause Hess. Hess war ein Erfurter jüdischer Schuhfabrikant, der ein großes Haus für Künstler führte. Es ist auch ein Büchlein erschienen mit Nachdrucken der bildlichen Eintragungen dieser Künstler ins Gästebuch, es heißt "Dank in Farben", das ich besitze.
So, das war die Erzählung meines Vaters von 1951 bei seinem Besuch in Osterrönfeld."
Vater (* von Dr.Karl Nolte) kam dann noch einmal 3 Jahre später zu uns, Ostern 1954, und hat dann folgendes erzählt:
Von seiner ersten Lehrerstelle in Breitenbach (*oder Breitenworbis), vom Krach des damaligen Hauptlehrers Dreikluft, der Organist war, mit dem Pfarrer,
der immer absichtlich falsch intonierte, einen halben Ton höher oder tiefer, bis der Organist die ganze Praefation über "per omnia saecula saeculorum" spielte.
Vater erzählte auch von seinem eigenen Krach mit Pfarrer Schulte in St. Wigbert in Erfurt, wo er Organist war, 20 bis 30 Jahre später. Ich sei bei der Auseinandersetzung in der Sakristei nach der 2-Uhr-Nachmittagsandacht dabei gewesen.
Pfarrer Schulte hatte zu einer Hochzeit einen anderen Organisten bestellt, das wurde extra bezahlt, und auf Vaters Vorhaltungen, das widerspräche. seinem Kontrakt, geantwortet, er habe ihm nichts mitzuteilen. Daraufhin sagte Vater den Organistendienst auf. Später war er Organist in der Neuwerkskirche..
- -
Vater erzählte weiter, daß sein erster Schulrat in Worbis, Herr Pollak, ein ausgezeichneter Mann - übrigens evangelisch - gewesen sei, der ihm seinerzeit trotz Widerspruchs des schulaufsichtführenden Ortspfarrers Urlaub zur Hochzeit seiner Cousine Marie Heinevetter, verheiratete Kokorski, nach Erfurt gegeben habe, wo er Brautführer war. Pollak habe sich in seinen Lebenserinnerungen äußerst anerkennend über den Bruder von Vaters Großmutter (Catharina Heinevetter, geb. Rhode, (1819-1891), geb. in Bernterode/Worbis), den Lehrer Rhode in Bischofferode, geäußert.
Von diesem hatte Vater seine erste Geige, sie stammte von Herrn Brückner, Heiligenstadt, Steingraben, einem höheren Zollbeamten, den ich noch gekannt habe. Diese Geige hat später meine Tochter Elisabeth aus Erfurt mit nach Hause gebracht.
Vaters Klavier hatte er als ganz junger Lehrer für 500,-- Mark gekauft, seine Mutter hatte den Kauf abgeschlossen. Vaters Vater stammte von einem Hof mit Schmiede in Freienhagen. Die Großmutter, eine tüchtige Bäuerin, hat Vater noch gut gekannt. Der Hof wurde später 'an einen Flucke verpachtet; ich bin als Kind noch dort gewesen. Ein Stück Land aus Großmutters Besitz wurde an Herrn Flucke verkauft, Vater hat es "verstudiert".
Großvater war groß - Flügelmann bei den Gardeschützen - Gardeschützen- Kompanie in Potsdam- hatte helles Haar und blaue Augen. Er hatte in Heiligenstadt Tischler gelernt, folgte mit väterlichem Geld seinen Brüdern Johannes (Vaters Pate) und Franz, die in Hörde (Dortmund) jeder eine Schmiede hatten, und er eröffnete dort eine Bautischlerei. Nach einem betrügerischen Bankrott zweier Bauherren, denen er vergeblich nach Köln und Düsseldorf nachreiste, fiel er der Gründerzeit zum Opfer, mit ihm einige seiner Kollegen.
Er hat auf einer Reise einen Blutsturz gehabt, schonte sich aber trotz ärztlicher Warnung nicht und starb bald an der Tuberkulose (Schwindsucht), man sagte, aus Gram.
Großmutter Katharina (1852-1930) ist noch jahrelang mit meinem Vater, der schmal und schlank war (lange Beine, guter Springer und Läufer, wie sein Vater), zum Spezialisten gegangen, um wegen der Lunge vorsichtig zu sein. Großmutter kehrte mit Onkel Heinrich (7 Jahre) und Vater (5 Jahre) (*1884) nach Heiligenstadt zurück und ging nähen, da sie von ihren Verwandten keine Almosen annehmen wollte.
Sie war auch Amtsvormund des Städtischen Waisenhauses in der Lindenallee (bis zu 60 Waisen) und der Bürgermeister war ihr dafür sehr dankbar.
Im Sommer ging es morgens um 4.00 Uhr mit den beiden Jungen in den Garten, da Großmutter um 8.00 Uhr zum Nähen fortmußte.
Vaters Onkel Josef (Bruder von Großvater Johannes Nolte) hatte eine gutgehende Schusterei in Köln, sein Sohn war Studienrat, Dr., (später in Königsberg) und eine Kanone im Kölner Karneval. Vater hat die Familie bei der "GESOLEI" (Ausstellung in den zwanziger Jahren) besucht.
Aus Hörde hat Vater 1953 von einem Rektor Johannes Nolte(!) ein Geschenkpaket beommen, er meinte, durch Vermittlung seines Freundes Schulrat Weidenhaun, der früher in Melchendorf bei Erfurt der dortige Kollege von der Zentrumspartei war.
Das waren also die Erzählungen meines Vaters bei seinen Besuchen bei uns in Osterrönfeld/Schleswig-Holstein."